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Spinnstubenbekanntschaften

in Der Junge mit dem Fliederstrauß, Inhaltsangabe 26.12.2022 16:44
von Harald.Herrmann | 708 Beiträge

Als die junge Frau, die mal meine Mutter werden würde, in das oberhessische Dörfchen Atzenhain kam, hatte sie schon eine ereignisreiche Zeit hinter sich gebracht.

Sie hatte praktisch die komplette achtjährige Schulzeit die im nationalsozialistischen Deutschland typischen Phrasen verinnerlicht und war stolz, ein "Deutsches Mädel zu sein. Anfangs des gerade ausgebrochenen Krieges mussten alle ein anschließendes "Landjahr" absolvieren, um dann im BdM, dem "Bund deutscher Mädel" militärähnlich gedrillt zu werden.

Sie bekam eine Ausbildung als Flakhelferin und landete schließlich als solche in Österreich, wo sie dann das Kriegsende und die Auflösung der Organisation erlebte.

Sie hatte das Glück, bei einer Familie unterzukommen, die sie schlussendlich sogar adoptieren wollte, als es 1946 hieß, dass alle Deutschstämmigen das sich der Neutralität verpflichtende Österreich verlassen mussten.

Das alles wurde abgelehnt und es gab einen tränenreichen Abschied.

(Dass der Abschied nicht endgültig war, ist eine andere Geschichte, man blieb über Briefe in Verbindung und es gab einige generationenübergreifende Besuche in beide Richtungen.)

Alle "Deutschen" dieser Region wurden in einen Zug verfrachtet und in das von Amerikanern besetzte Deutschland verschickt. Übrigens, wenn nicht ein nachlässiger Bürokrat den Zielpunkt verkehrt gelesen hätte, wäre sie auch nie in unser Dorf gekommen.

Nun standen die Neuankömmlinge vor der Bürgermeisterei und die Unterbringung musste geregelt werden. Es kam ihr sehr gelegen, dass sie als Magd bei Heinrich "Heini" Katz unterkam, dort eine einfache Kammer ihr Eigen nennen konnte und von der jungen Familie wie eine Verwandte oder gar Familienangehörige behandelt wurde.

Und noch etwas kam dazu, man ermöglichte ihr sehr schnell, Anschluss an die Gleichaltrigen im Dorf zu bekommen, was darin gipfelte, dass sie zu den dort üblichen "Spinnstubentreffen" eingeladen wurde.

Spinnstuben, da wurde tatsächlich mit Spinnrädern gearbeitet, aber auch alte Strickwaren aufgedröselt, gewaschen, auf dem "Haspel" geradegezogen und wieder neu verstrickt, es wurden Stoffe aufgetrennt, zugeschnitten, Flicken auf Löcher gesetzt, Löcher in Strümpfen gestopft, kurzum alles vermittelt, was nötig war, um angehenden Landfrauen Kenntnisse zu vermitteln, die auf den Dörfern zwingend nötig waren.

Dass dabei aber auch gesprochen wurde, mehr oder weniger Wichtiges Verbreitung fand, auch das gehörte dazu, genauso wie die Tatsache, dass zu festgelegter Stunde die mehr oder weniger schon "verbandelten" Partner und deren ungebundene Freunde erschienen.

Die im Winterhalbjahr wöchentlich in immer anderen Häusern stattfindenden Spinnstuben waren sozusagen die "Heiratsmärkte" auch und gerade in der Nachkriegszeit.

Nun ja, aus den Erzählungen meiner diversen Altvorderen, aus den Daten der "Aussiedlung" der Deutschen Anfang 1946 aus Österreich, der Tatsache, dass im gleichen Jahr im Herbst eine Kirmes stattfand, bei der der "Kirmesbursch" Heinrich Herrmann jedes Mal, wenn die Frau, die er haben wollte, mit einem Tänzer zum Tanzboden kam, den Querbalken einlegte und behauptete, es sei zu voll verbunden mit der Tatsache, dass im folgenden März schon die Hochzeit war kann man glasklar folgern, wo sich die beiden sich mit Sicherheit jedes Mal trafen - dort, wo gerade die "Spinnstube" war …

zuletzt bearbeitet 26.12.2022 23:45 | nach oben springen


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