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Der Osterbesuch

in Der Junge mit dem Fliederstrauß, Inhaltsangabe 18.02.2022 19:58
von Harald.Herrmann | 708 Beiträge

Der Osterbesuch

Es ist immer wieder das Gleiche. Man blättert in den alten Fotoalben, sieht ein, zwei Bilder, lehnt sich zurück, schließt die Augen und schon beginnt ein Film abzulaufen. In diesem Falle sind es Bilder von Weihnachten 1952 und März 1953, die ursächlich zusammenhängen, sitze ich doch auf dem Weihnachtsbild mit kurzen Hosen da.

Der Grund: Im Bauernhaushalt, in dem man mit Lebensmitteln mehr als gut versorgt war, musste man auf technische Geräte, die nicht unbedingt nötig waren, verzichten. Zu diesen Geräten zählte ganz klar der Fotoapparat, und so kam es, dass das Weihnachtsbild in Zusammenhang mit einem Familienbild im März aufgenommen wurde. Mein Onkel Wilhelm, seit Weihnachten stolzer Besitzer einer Kamera, war zu Besuch da und es wurden Aufnahmen gemacht.

Meine Schwester hatte eine Puppenstube bekommen, mit der sie mangels Kinderzimmer und der besseren Aufsicht wegen nur in der sonst verschlossenen "Gout Stobb" (der "Guten Stube") spielen durfte. Dort verblieb auch bis zum Fototermin mein Hauptgeschenk, ein Tretroller aus Holz, der heutzutage keine Chance gehabt hätte, ein TÜV-Prüfzeichen zu bekommen. Zu Recht, wie ich zu meinem Leidwesen erfahren musste, denn die Stürze, verbunden mit aufgeschürften Knien und Händen waren kaum zu zählen > war die defekte Bremse repariert, hängte sich das Scharnier der Lenkung aus oder ein Rad blieb auf der Strecke.
Aus diesem Grund war der Aufbau des Geschenktisches ohne viel Aufwand zu rekonstruieren. Es war sogar ein Geschenk mehr als zu Weihnachten da, denn nach einem Riesenzirkus meiner Schwester, die auch einen Roller haben wollte, hatte mein Vater einen solchen selbst gebaut, mit dem Ergebnis, dass der selbst gebaute zwar schwerer, dafür aber deutlich weniger störanfällig war als meiner.

So sitzen wir also hinter dem Gabentisch, Opa in der Mitte, links und rechts uns Kinder haltend, vor uns die Geschenke und starren alle > nicht in die Kamera, sondern nach oben, wo an einem Deckenbalken befestigt ein metallbeschichteter Papierstreifen hell aufflackernd für ausreichende Beleuchtung sorgte.
Da ich schon die kurze (besser gesagt, mittellange) Anzughose anhabe, mit den gleichen Kniestrümpfen und Schuhen wie auf dem nächsten Bild ist die zeitliche Nähe der beiden Bilder nachzuvollziehen. Da stehen unsere Eltern und wir Kinder vor der Gartenmauer, Mutter im Sommerkleid, Vater im kurzärmligen Hemd, Schwester im Kleidchen und ich, mir völlig verkleidet vorkommend, im Anzug mit Fliege, soweit noch so gut, aber mit Hose bis zu den Knien und groß karierten Socken, zwei Zentimeter unterhalb der Hose endend.

Und genau mit dieser Aufmachung sollte ich zu Ostern mit meinen Großeltern einen Verwandtenbesuch bei meiner Patentante machen, da half all mein Bitten um eine etwas legerere Kleidung nichts, war doch mit dieser Aufmachung ein in Aussicht gestellter Spielnachmittag mit meinem im gleichen Ort wohnenden gleichalten Großcousin von Anfang an zum Scheitern verurteilt, hätte doch ein Grasfleck oder - noch schlimmer - ein Riss am Anzug zu Riesenschelte oder Schlimmerem geführt.

So wurde sich also am Ostersonntag in der Frühe auf die Reise in den etwa zehn Kilometer entfernten Wohnort meiner Tante begeben, eine bei fast sommerlichen Temperaturen schweißtreibende Angelegenheit, mussten wir doch zuerst einen Fußmarsch von fast drei Kilometern bewältigen, um im Nachbarort zum Bahnhof zu kommen, Opa und ich jeweils im Anzug, Oma mit einer "Handtasche", die locker die Dimension einer heutigen Reisetasche hatte.
Dann ging es im Dampfzug (Lokomotive mit zwei Wagen dritter Klasse, Holzsitze, teilweise an der Längsseite, Kanonenofen, zugig, klappernd) über zwei Ortschaften zum Ziel.

Im Zug griff ich, wie schon auf dem Fußmarsch prüfend nach meinen dort deponierten Ostereiern, die sorgfältig auf "Eierweitwurftauglichkeit" ausgesucht waren, das heißt, sie mussten möglichst kompakt rund sein.
Der Schreck durchzuckte mich wie ein Blitzschlag, als ich in irgendetwas Nasses griff und die Hand nach dem Rausziehen gelb verfärbt war. Nach der lautstarken Schelte, (die obligatorische Backpfeife blieb mir wohl wegen der Zuschauer erspart) wurde mithilfe von Taschentüchern der Größenordnung eines geviertelten Bettlakens die Hand, die noch ganzen Eier und - sehr wichtig - das Tascheninnere gesäubert.
Mit einem aus den unergründlichen Tiefen der Handtasche hervorgezauberten Löffel durfte ich den Restinhalt der Eierschalen auslöffeln, wobei meine Oma mit Blick auf die Schale, besser gesagt auf das Färbemittel, die Feststellung traf:
»Do hott’s Friedche owwer die Ächer zou wink gekocht.«
(»Da hat das Friedche die Eier aber nicht lange genug gekocht.«)

Dass der Ostersonntag für mich dann doch noch zu einem guten Ende führte, hatte ich meiner Tante zu verdanken, denn nachdem meine Oma ihr wortreich mein Missgeschick schilderte, meinet sie nur:
»Modder, do kann doch der Bub naut dafür, wann’s Friedche zou blöd es, Usterächer richtig se koche, das konnt dät froier noch nit, doas hässte doch wisse müsse und die Ächer raussordien müsse.«
(Mutter, da kann doch der Bub nichts dafür, wenn’s Friedche zu blöd ist, Ostereier richtig zu kochen, das konnte die früher noch nicht, das hättest du doch wissen und diese Eier aussortieren müssen.«)

Nach diesen Worten wurde das Kleidungsstück nochmals von ihr gesäubert und irgendwoher hatte sie auch eine andere Hose hergezaubert.
Nach Mittagessen war dann Eierweitwerfen mit Großcousin und Freunden angesagt, wobei natürlich bei den "Rekordversuchen" ein Ei möglichst weit zu werfen, ohne dass es zerbrach eine gehörige Menge Eier dies nicht überstanden und an Ort und Stelle verzehrt wurden.

Wieder zurück bei der Familie hieß es Kaffeetrinken mit drei Sorten Kuchen um kurz darauf wieder Richtung Bahnhof aufzubrechen.

Ja, "brechen" , dagegen hatte ich auf dem gesamten Heimweg, der sich natürlich in umgekehrter Reihenfolge wie der Hinweg abspielte, zu kämpfen, das letzte Stück Fußweg hatte mich aber wieder soweit gesunden lassen, dass das Abendbrot mir wieder mundete, sogar ein Brot mit Ei habe ich noch gegessen.

Es ist übrigens bei diesem einen Osterbesuch geblieben, da man festgestellt hatte, dass ich nicht unbedingt der ideale Spielgefährte für meine drei Jahre jüngere Cousine war. Aus diesem Grund hatte meine zwei Jahre jüngere Schwester ab dem folgenden Jahr das Vergnügen, mit Oma und Opa zusammen zum Osterbesuch zu fahren.
Und dass "Gote Minna" meine Patentante war, war sowieso unerheblich, sie wurde zeitlebens auch so von meiner Schwester tituliert, während die Schwester meiner Mutter, von mir korrekterweise Tante Else angesprochen, zwar ihre Patentante war, aber auch bei ihr bis zum heutigen Tag "Tante Else" geblieben ist.

In den folgenden Jahren habe ich die Osternachmittage wieder im ritterlichen Wettkampf um die Ehre des "Eierweitwurfmeisters" im Kreise der gleichaltrigen Nachbarsbuben aus unserer Gasse ("die Ecke" genannt, und somit waren wir - sechs an der Zahl - die "Eckebuwwe") verbracht.

zuletzt bearbeitet 09.04.2023 12:31 | nach oben springen


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