Ich bin eingesperrt!
Ich bin eingesperrt!
in Der Junge mit dem Fliederstrauß, Inhaltsangabe 19.02.2022 10:52von Harald.Herrmann • | 784 Beiträge
Ich bin eingesperrt!
Im bäuerlichen Anwesen war alles so eingerichtet, dass verschiedene Tätigkeiten nebeneinander herlaufen konnten, man koordinierte z.B. Füttern, Melken und Ausmisten der Tiere. Dazu war es nötig, mit verschiedenen Leuten zu gleicher Zeit tätig zu sein. Fielen jetzt aber Arbeiten an, die aus diesen festgelegten Abläufen jemanden abzogen, so musste jemand anderes einspringen.
So kam es zwangsläufig zu der Situation, dass meine Oma, die normalerweise in der Küche war und mich eigentlich immer im Auge behalten konnte kurzfristig ganz aus der Küche verschwand. Ich muss wohl ein sehr neugieriges Kind gewesen sein, denn kaum in der Lage, mich krabbelnd fortzubewegen war ich bei ihrer Rückkehr sonst wo zu finden, nur nicht auf meiner Decke. Es blieb also nichts anderes übrig, man deponierte mich im Laufställchen.
Ja, Laufställchen nannte man die damals sehr einfache Konstruktion aus zusammenklappbaren Holzgittern, die aufgeklappt und mit Riegeln versteift eine Fläche von circa Einmeterzwanzig mal Einmeterzwanzig sagen sozusagen begrenzten. Mit einer Decke ausgelegt, zwei drei Kissen und einige Holzklötzchen dazu, zum Stapeln und Kauen gedacht, später aber als Wurfgeschosse verwendet. Da wird der Kleine wohl Ruhe geben - dachte man.
Womit niemand gerechnet hatte, war mein von Anfang an ungeheuerer Entdeckungsdrang. Die Bereitschaft, alles Neue sofort und gründlichst zu erforschen, war mir im wahrsten Sinne des Wortes schon in die Wiege gelegt worden. Nachdem ich in der Anfangszeit als kaum krabbelndes Baby eher zufällig gegen das Gitter gerollt war und das Ställchen damit verschoben hatte, begann schon bald die Phase des Hochziehens und der ersten Schritte.
Nun gut, normalerweise standen Kleinkinder mit beiden Fäusten festgeklammert an den Gitterstäben und zogen quengelnd sich mal nach rechts oder links, dabei kleine, tapsige Schritte vollführend daher der Name Laufstall. Ich soll mich späteren Erzählungen zufolge auch am Gitter hochgezogen haben, um von Anfang an mit begeistertem Gesichtsausdruck am Gitter gerüttelt zu haben. Jetzt kommt Physik ins Spiel: Da ich auf der Einlegedecke stand, konnte sich das Gitter nur von mir wegbewegen, die Gegenseite der Decke, da von keinem Gewicht beschwert, rollte sich leicht auf, nach mehreren Ruckelbewegungen war die Decke soweit verschoben, dass die Füßchen Halt auf dem Küchenboden bekamen. Jetzt nur noch ein kräftiges Gegenlehnen gegen das Gitter, das Ställchen rutschte los, um nicht auf die Schnauze zu fallen ein paar Schritte hinterher und schon die kindliche Erkenntnis: Ich kann ja da hin, wo ich hin will!
Nach der neuen, von mir kreierten Gebrauchsanweisung des Laufstalles, – denn erst jetzt machte er seinem Namen alle Ehre – waren meinen Erkundungsgängen nur noch natürliche Grenzen in Form von Wänden oder Möbelstücken gesetzt. Besonders schnell soll ich damit am Tisch gewesen sein, wenn das Essen aufgetragen war, dabei freundlich, aber unmissverständlich meinen Anteil einfordernd. Ich soll, so meine Mutter, mit ständigem »Ham ham ham«, ihr genau auf die Finger geschaut haben wie sie Kartoffel und Gemüsestücke aus der Suppe fischte und zu Brei zerdrückte, mit Butter anreicherte und erst in dem Moment laut geworden sein, wenn nach ihrem Probieren, weil offensichtlich noch zu warm, nicht sofort der Brei in meinem Mund landete.
Nachdem ich das Laufställchen, dem letzten die Küche verlassenden Erwachsenen folgend, so gegen die nach innen zu öffnende Tür rangiert hatte, dass diese nur mit Mühe zu öffnen war wurde die Konstruktion wieder zusammengeklappt zur späteren Verwendung. Meine um zwei Jahre jüngere Schwester hat dann auch, deutlich ruhiger, erheblich länger als ich darin zugebracht. Mit einer der Hauptgründe war wohl auch, die kleine Schwester vor den etwas ruppigen Spielen ihres älteren Bruders zu schützen.
Welch seltsame Blüten es trieb, die Kinder ständig in der Nähe und halbwegs unter Aufsicht zu habe, während man selbst anstehende Arbeiten verrichtete, habe ich bei meiner drei Jahre jüngeren Cousine mitbekommen.
Dazu muss ich etwas ausholen. Man legte sehr viel Wert darauf, dass die Kinder früh sauber waren. Zu diesem Zweck wurden sie auf das Töpfchen gesetzt und erst nach vollbrachtem "Geschäft" wieder erlöst. Da aber nach der Meldung »bin fertig« nicht immer gleich jemand da war, mussten sie so lange warten, bis man Zeit für sie hatte. Meine Cousine muss in dieser Hinsicht sehr geduldig, besser gesagt belastbar gewesen sein, denn wenn irgendwelche Arbeiten anstanden (Heu oder Getreide abladen), so wurde sie "vorsichtshalber" aufs Töpfchen gesetzt. Mit einer Puppe in der Hand rutschte sie dann zwischen Hof und Scheune hin und her, bis die Arbeit erledigt war und man sie erlöste. Das seltsame daran: Außer unserer gemeinsamen Oma Gretchen fand niemand etwas dabei, das war halt so. Punkt.
Zum Punkt Erziehung zur Sauberkeit gab es ein allabendlich wiederkehrendes Ritual, im Sommer bei offenem Fenster die ganze Straße entlang zu hören, wenn die diversen Kinder in den einzelnen Häusern abgefragt wurden:
Ein, zwei oder drei Vornamen, " hobt ihr aach noch emol Bach gemoacht?" Ab Lebensalter vier war einem das schon recht peinlich, es soll aber Familien gegeben haben, wo man das noch die schon pubertierenden Kinder abfragte!
Grund für dieses Ritual waren die sanitären Verhältnisse der Bauernhäuser. Als Toilette stand das Verlies namens Plumpsklo, neckisch versteckt hinter einer Tür mit ausgeschnittenem Herzchen, zur Verfügung, entweder in der Stallaußenmauer integriert, bei manchen auch im Stall angebracht.
Vorteil der Stallversion > im Winter war es nicht sprichwörtlich A…..kalt!
Als eine besondere Variante sei noch der Holzverschlag über dem Misthaufen erwähnt, im Prinzip ein blickdichter Donnerbalken mit Direktentsorgung.
Man behalf sich in dringenden Fällen mit dem sogenannten Nachtgeschirr, das verschämt unter den Ehebetten der Eltern und Großeltern stand. Die Kinder hatten gefälligst abends und dann nicht mehr vor Morgengrauen, in dringenden Fällen im Elternschlafzimmer ihre mehr oder minder großen Geschäfte zu erledigen.
Punkt. Aus. Ende.
In unserer Nachbarschaft wohnte eine alleinstehende alte Frau, "es Kalinche“ genannt, der die morgendliche Entleerung ihres Nachtgeschirres auf dem normalen Weg zu umständlich war, sie öffnete einfach ein Fenster und kippte die Brühe mit Schwung in die Gosse, einem offen verlaufendem Abwassergraben. Da sie am oberen Ende der Gasse wohnte, konnte eigentlich jeder Anwohner „dem Kalinche“ einen regen Stoffwechsel bescheinigen. Wir Kinder sind, speziell im Sommer, wenn alle Fenster geöffnet waren, vorsichtshalber auf der anderen Seite der Gasse am Haus vorbei, es wollte niemand eine Dusche abbekommen.
Aber das alles war noch nicht relevant zu dem Zeitpunkt, als man mir das Ställchen ersparte, zu diesem Zeitpunkt soll ich intensiv daran gearbeitet haben, die Windeln trocken zu halten, besser gesagt, mich von ihnen zu befreien. (Als dann meine Töchter im Windelalter waren hat meine Mutter oft genug gemeint: »Die neuen Windeln sind so schön trocken und praktisch, die Kinder haben gar kein Verlangen, sich von ihnen zu trennen und tragen sie mit fast zwei Jahren noch!« So unrecht hatte sie da wohl nicht!)
Nun gut, ich hatte trockene Hosen, konnte laufen und einige Barrieren waren abgebaut, jetzt hieß es:
»Welt, ich komme!«
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