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Der blaue Mercedes

in Der Junge mit dem Fliederstrauß, Inhaltsangabe 18.02.2022 18:04
von Harald.Herrmann | 708 Beiträge

Der blaue Mercedes

Es ist nun schon weit mehr als sechs Jahrzehnte her, aber ich weiß es noch wie heute, das Warten, das Kribbeln, die Gewissheit, dass etwas Besonderes bevorsteht und die Sicherheit, dass es mit meinem vierten Geburtstag zusammenhängen musste.

Wenn ich die Augen schließe, sehe vor mir den alten Bauernhof mit allen Gebäuden, den Aufgang zur Werkstatt, höre den Motor laufen, der über eine Transmission die verschiedenen Werkzeugmaschinen antreibt, die ich aber nie in Betrieb sehen konnte, da der Aufenthalt für einen überall neugierig herumwuselnden Jungen wie mich zu gefährlich war!
Eine Transmission war eine fest installierte Anlage, bestehend aus einer zwei-bis dreifach gelagerten Welle mit verschiedenen Riemenscheiben, angetrieben über einen Treibriemen vom einzigen Motor auf dem Bauernhof, der je nachdem, wo er gebraucht wurde, zum einen die o. g. Transmission oder eine andere in der Scheune, zuständig für Heuaufzug, Schrotmühle, Häckselmaschine, Dickwurzmühle usw., jeweils mit entsprechenden eigenen Treibriemen, eine extrem unfallträchtige Anlage, mich wundert bis heute, dass da nicht mehr Unfälle passierten.

Wie gesagt, es ging auf meinen Geburtstag zu, die Werkstatt war dauerverschlossen, ob leer oder ob Vater und Großvater drinnen tätig waren.
Ich wusste eines sicher:
Es herrschte oberste Geheimstufe!

Dann war der große Tag da und es hieß sich wie gewohnt und bei den Großen und bei meinen Alterskollegen in der Nachbarschaft schon gesehen bis zum Nachmittagskaffee gedulden.
Am Vormittag zog der Duft von frischgebackenem Kuchen durchs Haus, der Wunsch nach heissem Kakao wurde mit "später" beschieden, und als alle Geburtstagsgäste da waren, gab es die Geschenke.
Wie zu erwarten erhielt ich hauptsächlich Selbstgestricktes und -Geschneidertes, einige Süßigkeiten und …
… sonst nichts!
Nur eine gewisse Hektik der Erwachsenen, Flüstern, unterdrückte Zornesausbrüche und schlussendlich das Auftauchen meiner Eltern zusammen mit beiden Grosselternpaaren deutete auf eine Wendung hin.

Ich wurde von den Eltern in die Mitte genommen, der Zug setzte sich in Richtung Werkstatt in Bewegung, Treppe hoch, Tür auf und dort stand tiefblau lackiert, aber ohne Räder ein (holzgefertigtes) Mercedes-Cabrio-Tretauto.
»Das ist deins«, ließ sich Papa vernehmen »aber nicht anfassen, die Farbe ist noch nicht ganz trocken und außerdem müssen wir noch warten, bis besseres Wetter ist.«
Na toll, jetzt war ich Autobesitzer, der erste und einzige der Familie!

Zwei Wochen später war es dann so weit, die erste Fahrt im nur leicht geschotterten Hof, der Gott sei Dank etwas abschüssig war. Frohgemut fuhr ich los, kam auf Touren, der Gartenzaun nahte, ich lenkte nach rechts, das Autochen machte eine Kurve nach links und knallte gegen das Scheunentor.
Grosses Geschrei, Vorwürfe von wegen "du musst richtig lenken", nächste Fahrt mit dem gleichen Ergebnis. Als mein Vater die dritte Fahrt seitlich neben dem Auto herlaufend selbst lenkte und zum gleichen Ergebnis kam, musste er zugeben, dass die Konstruktion der Seilzuglenkung nicht ganz gelungen war.
Die Lenkung wurde nicht an diesem (Sonn-)Tag geändert, mit ein Hauptgrund war wohl, dass ausgerechnet von mir, dem Buben, der noch nicht mal in die Schule ging, der Hinweis kam, wie man das Seil führen musste, um die Lenkung richtig zu gestalten.
Erst als der Dorfschmied, der die Achsen und auch die Lenkung gefertigt hatte, den Fehler korrigierte, war das Fahrzeug betriebsbereit.

Da bei uns im Dorf die Straßen auch nicht geteert waren, die Höfe gepflastert und mein Gefährt auch viel zu schwer, habe ich es sehr selten nutzen können.
Eigentlich stand es meist im Weg rum und wurde von anderen Kindern bestaunt. Dass ich um den Besitz dieses Gefährtes glühend beneidet wurde, hat meinen Ärger über die fehlende Nutzung nur unwesentlich mindern können.

Als ich größer war, habe ich nur mit dem Fahrwerk auf das Wesentliche beschränkt, soweit ich mich erinnern kann, ziemlich viel Unfug getrieben, während die abmontierte Karosserie als überdimensionaler Blumenkübel benutzt wurde.

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