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Ich werde eingeschult

in Der Junge mit dem Fliederstrauß, Inhaltsangabe 07.03.2022 14:15
von Harald.Herrmann | 708 Beiträge

Ich werde “Eingeschult“
Eigentlich ist der Moment der Einschulung in der heutigen Zeit keine solche Zäsur als zu unserer Zeit, in der eine Kindergartenbetreuung in unserem Dorf nicht angedacht war.
Manche Kinder - ich gehörte dazu - sehnten sich den Tag herbei, an dem es losgehen sollte mit Schreiben und Rechnen.
Andere waren froh, dass sie der häuslichen Aufsicht durch Eltern, Großeltern und - besonders ätzend - älteren Geschwistern für eine Weile entkommen konnten.
Und dann gab es noch die, die diesen Einschnitt in ihrem bisherigen unbeschwerten Leben mit einigen kleinen Pflichten und daneben viel Freizeit schon vor der Einschulung nachtrauerten.
Auch war es damals, 1954, für manche Familien schwer, überhaupt einen wohlgefüllten Ranzen zu ergattern. Und ja, da gab es natürlich welche, die von Haus aus deutlich neu gekaufte Ranzen samt Inhalt hatten – und andere, deren Eltern mit Müh und Not (und gegen Mithilfe in der Landwirtschaft) irgendwo abgelegte Ranzen, Schiefertafeln mit großen Kratzern und eine Handvoll Griffelstumpen ergattert hatten. Ein völlig abgewetzter, nur von einigen Nähten zusammengehaltener Ranzen war aber immerhin etwas, was von den örtlichen „Flickschustern“, die, im Gegensatz zu der damals wie heute eher abwertenden Bezeichnung, durchaus Könner in ihrem Metier waren mit dem Ehrgeiz, ein vorzeigbares Ergebnis abzuliefern, wieder (Vorsicht, Satire) „zurechtgeschustert“ wurden.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein Abschnitt aus Erich Kästners Buch „Als ich ein kleiner Junge war“ ein, in dem er das Können seines Vaters als „Lederkünstler“ beschreibt:
>Mein zukünftiger Vater war zwar ein erstklassiger Handwerker, ja ein Lederkünstler, aber ein schlechter Geschäftsmann. Und eines hing mit dem andern eng zusammen. Der Schulranzen, den er mir 1906 machte, war, als ich 1913 konfirmiert wurde, noch genau so neu wie an meinem ersten Schultage. Er wurde dann an irgendein Kind in der Verwandtschaft verschenkt und immer wieder weitervererbt, sobald das jeweilige Kind aus der Schule kam. Ich weiß nicht, wo mein guter alter brauner Ranzen heute steckt. Doch ich würde mich nicht wundern, wenn er nach wie vor auf dem Rücken eines kleinen Kästners oder Augustins zur Schule ginge! Doch das gehört noch nicht hierher. Wir befinden uns ja erst im Jahre 1892. (Und müssen noch sieben Jahre warten, bis ich auf die Welt komme!)<
Egal, wie die Einzelnen dies wahrnahmen, der Tag der Einschulung selbst war für alle eine Zäsur, auch wenn bei weitem kein solcher Bohei gemacht wurde wie inzwischen bei manchen Familien. Also nichts mit Schultüten, in denen das neueste Smartphone schon mal vorausgesetzt wird, natürlich mit integriertem Taschengeldkonto im mindestens dreistelligem Eurobereich und der Möglichkeit des mobilen Bezahlens mittel Pay-App.
Nein, wir freuten uns darauf, dass es vom örtlichen Bäcker eine in unseren Augen riesige Brezel gab, die - wie mit dem Lineal ausgerichtet - stolz vor die Brust gehalten wurden, während wir verlegen lächelnd die Kamera des für die obligatorischen Fotos einbestellten Fotografen anvisierten.
Je nachdem, ob ein Eltern- oder Großelternteil oder ältere Geschwister uns ABC Schützen zur Einschulung gebracht hatten, wurden denen die Brezeln - von einigen mit sehnsüchtigen Blicken verfolgt, da sie, wie sich herausstellte, erhebliche Zweifel hatten, mehr als einen Teil davon selbst essen zu dürfen - den Begleitpersonen mitgegeben und der Ernst des Schülerlebens konnte beginnen.
Altlehrer Reitz, eigentlich schon Pensionär, wies uns die Plätze zu, die einer ungeschriebenen Sitzordnung folgend von den jeweiligen Lehrern für die vier Schuljahrgänge der Unterstufe folgend so aufgeteilt wurden, dass er es schaffen konnte, mithilfe ausgesuchter Viertklässler alle Schüler ihrem Wissensstand entsprechend den passenden Stoff zu vermitteln.
Dass das schwierig war, das war mir vom ersten Tage an auch bewusst. Hatte ich doch schon von klein auf, wenn zum Beispiel meine Oma am Tisch saß und Socken flickte und mein Opa ihr aus einer der drei „Zeitungen“ vorlas, die ins Haus kamen - dem Kasseler Sonntagsblatt (in Frakturschrift), dem Hessenbauer und der Samstagsausgabe der Alsfelder Allgemeinen - den Wunsch geäußert, zu erfahren, wie aus dem Wirrwar auf dem Papier mein Opa ganze Sätze herausfinden konnte. Nun ja, der stolze Opa hatte es sich nicht nehmen lassen, mir beide Schriftarten nahezubringen, was es mir ermöglichte, die im wahrsten Sinne in handliche Stücke geschnittenen und auf einem spitzen Nagel aufgespießten Zeitungsfragmente jeglicher Art vor ihrer finalen Wertschöpfung noch einmal durchzustudieren.
Das mit der Frakturschrift sollte sich noch als sinnvoll erweisen, konnte ich so durchaus einige alte Bücher, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte, lesen.
Interessanterweise war eines davon „Heidi“ in Frakturschrift und im Gespräch mit meiner Frau Sabine habe ich erfahren, dass sie dies Buch auch in der gleichen Schrift gelesen hatte und wie ich dem gleiche Fehler aufgesessen war, bei dem ständig wiederholenden “Das Kind“ in Frakturschrift, das dauernd herumsprang, erst mal das “Rind“ zu lesen, bis das ominöse Rind Blumen pflückte, die der Tante brachte und fragte, wie lange man noch unterwegs sei.
Ah ja, der verschnörkelte Buchstabe, der eher wie ein R aussah, war ein K!
Und nun saß ich in der Schule, der Lehrer musste auch dem letzten Dödel beibringen, welche Zahlen und Buchstaben auf der Tafel standen ich langweilte mich und durfte diese Buchstaben dann auf die Schiefertafel kratzen.
Gerade jetzt, wo ich das schreibe, habe ich die Töne wieder im Ohr und ja, die Härchen stellen sich in der Erinnerung immer noch auf.
Trotzdem ging ich gerne zur Schule und setzte außerdem meinen ganzen Ehrgeiz ein, so gut zu sein, dass ich in allen Fächern sozusagen Jahrgangsbester war …

zuletzt bearbeitet 13.03.2022 21:34 | nach oben springen


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