Das Russentischchen als Weihnachtsgeschenk
Das Russentischchen als Weihnachtsgeschenk
in Kurzgeschichten jeglicher Art 05.12.2019 21:15von Harald Herrmann • | 150 Beiträge
Das Russentischchen als Weihnachtsgeschenk
In der Werkstatt des alten Bauernhofes stand seit Jürgen sich zurückerinnern konnte ein kleines Tischchen, über und über mit Farbklecksen bedeckt, mehrere Farbtöpfe mit zum Teil hart gewordenen Farbresten und eine Dose mit eingetrockneten Pinseln darauf. Als seine Tochter Marlene ihn gefragt hatte, ob sie dieses Tischchen als Blumentischchen haben könnte, es würde haargenau in die Ecke neben dem Balkon passen und mit dem seit Jahren perfektionierten, gaaanz lieben Augenaufschlag dazusetzte, »Nicht wahr, Papi, Du machst es mir möglichst bis Weihnachten schön zurecht?«, da hatte sie schon gewonnen. Er grummelte vor sich hin, strich ihr übers Haar und meinte:
»Okay, Kleines, klar mache ich es Dir zurecht, aber weißt Du überhaupt, was das hier ist?«
»Nein,« grinste sie, »aber wie ich dich kenne, wirst Du es mir gleich erzählen.«
» Nee, nee, das machen wir am Weihnachtsabend, wenn dein Mann und alle anderen auch dabei sind.«
Von nun an werkelte er mit Begeisterung an dem Tischchen herum, es war doch mehr zu tun, als er zuerst gedacht hatte. Aber als das Tischchen fertig vor ihm stand, da war er schon stolz auf sein Werk.
Am Heiligabend, nach dem Kirchgang und der Bescherung, die für das gelungenen Tischchen große Anerkennung von allen Seiten einbrachte, ging es zum Abendessen in die alte Bauernküche an langen Esstisch. Da das junge Paar dabei war und auch Marlenes Bruder Peter an diesem Abend nach alter Sitte "auf Familie machte", war man mit Oma Maria zu sechst.
»Seltsam Mutter, wenn wir hier nur zu dritt sind, da lässt Du dich von Renate von hinten und vorne bedienen, und heute bist Du gesprungen wie ein junges Mädchen.«
»Mach dich nicht lustig über mich, früher habe ich hier zwölf Leute allein versorgt, da kann Renate auch für uns drei …“
»… und dafür spült sie hinterher immer, aber heute machen das Marlene und ich«, lenkte seine Frau ein, wohl wissend, dass sich ihr Mann Sorgen um die zunehmende Lethargie seiner Mutter machte.
»Ja, ja, als ich hier einheiratete, da saßen teilweise vier Generationen hier am Tisch, dazu zwei Mägde und ein Knecht, da wurde es schon mal eng, aber zu Essen war immer genug da.«
Jürgen unterbrach sie.
»Immer genug zu Essen da, das ist der Punkt, wo das Russentischchen ins Spiel kommt.«
Er wandte sich zu den jungen Leuten: »Euer Großvater war ja in diesem unseligen Krieg, der Knecht ebenfalls und da meine Mutter zwar schon mit ihm liiert, aber noch nicht verheiratet war, wurde sie bei sich zu Hause gebraucht. Eure Urgroßeltern waren mit zwei BdM–Mädchen aus der Stadt nicht in der Lage, den Hof ordnungsgemäß zu führen. Also wurde ihnen ein russischer Kriegsgefangener zur Arbeit auf dem Hof zur Verfügung gestellt. Der wurde in den ersten Tagen gebracht und wieder abgeholt, aber das ging auf die Dauer nicht, Uropa Hannes hat mächtig Druck gemacht und so konnte der Gefangene über Nacht bleiben.
Er wurde in der Knechtkammer untergebracht und hätte normalerweise eingesperrt werden müssen, aber da das Melken schon mitten in der Nacht losgehen musste, hat mein Opa auch durchgesetzt, dass das Zimmer offen blieb. Er hat mir später erzählt, der Hauptgrund war, dass bei einem eventuellen Luftangriff, mit dem man ja auch rechnen musste, der Russe die Chance haben sollte, sich zu befreien.
Zu den Regeln gehörte auch, dass die ausgeliehenen Gefangenen nicht am großen Tisch mitessen durften. Also wurden vom örtlichen Schreiner in Serie ein und zwei Personen–Tische gefertigt, die dann möglichst ca. drei Meter vom eigentlichen Esstisch entfernt aufgestellt wurden. Außerdem waren Qualität und Quantität der Speisen ziemlich weit unten anzusetzen. Dass diese Regeln eingehalten wurden, dafür sorgten die örtlichen NSDAP–Größen mit plötzlichen Kontrollbesuchen.
Opa hat seinem "Russen" so schnell wie möglich etwas deutsch beigebracht, und Josef, so sein Name, durfte natürlich am Tisch mitessen, immer auf Geräusche der Haustür achtend, die, wie auf den Dörfern Sitte, erst mit dem Schlafengehen und dem damit verbundenen Löschen der Lichter verschlossen wurde. Wenn man das Öffnen der Haustür hörte, schnappte sich Josef einen Teller mit zwei Kanten Altbrot und einem Endstück Wurst und verzog sich zum – Russentischchen.
Josef berichtete auch, dass andere Bauern seine Landsleute quälten und schlugen und so wenig zu essen zugestanden, dass diese teilweise von den Quetschkartoffeln für das Schweinefutter stibitzten. Dass er nach getanener Arbeit kurz vor dem Schlafengehen schon mal ein Glas Obstwein mittrinken durfte, er hütete sich, dies seinen Kumpels zu erzählen.
Zum Kriegsende, als die russischen Gefangenen frei gelassen wurden und in Horden durch die Dörfer zogen, durchaus bereit besonders auffällige Ex–Arbeitgeber zu bestrafen, hatte Opa Hannes nichts zu befürchten!
Am Tag des Abtransportes Richtung Russland kam Josef tieftraurig zu Opa und sagte in seinem gebrochenen Deutsch: »Bauer, war schönste Zeit von mein Leben hier, ich, wenn wieder zu Hause in Russland, gehe Sibirien oder – das hier«. Mit diesen Worten fuhr er mit der flachen Hand vor seiner Gurgel her.
Man hat nie wieder von ihm gehört.
Euch bitte ich, haltet das Tischchen in Ehren!«
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